Elif Shafak erzählt in ihrem neuen Roman opulente Geschichten, die sich durch Jahrhunderte und Kulturen schlängeln. Das Thema der Migration verbindet die Erzählstränge.
Irene Binal
3 min
Ein bettelarmer und hochbegabter Junge aus dem viktorianischen London, ein jesidisches Mädchen aus dem Osten der Türkei und eine depressive Wissenschafterin im London der Gegenwart: Drei Menschen sind über die Zeiten und Räume hinweg durch einen Regentropfen verbunden. Im antiken Ninive fiel er einem König namens Assurbanipal ins Haar und beobachtete, wie der Herrscher seinen Berater grausam bestrafte. «Noch Jahrhunderte später wird eine Spur dieses Augenblicks in der elementaren Form des Tropfens enthalten sein.»
Ausgehend von diesem Wassertropfen, erzählt Elif Shafak in ihrem Roman «Am Himmel die Flüsse» eine Geschichte, die mehrere Kulturen und Jahrhunderte umspannt. Im London des Jahres 1840 fällt der Tropfen als Schneeflocke auf das Gesicht eines Neugeborenen, das den Namen Arthur erhält und als «König der Abwasserkanäle und Elendsquartiere» in bitterster Armut aufwächst.
Aber Arthur ist begabt und wissbegierig, bringt es zu einer Anstellung im British Museum und ist fasziniert von alten Tontafeln aus der Bibliothek von König Assurbanipal. Darauf sind Fragmente des Gilgamesch-Epos aufgezeichnet, und Arthur ist besessen von der Idee, in den Ruinen von Ninive nach den verlorenen Teilen des Gedichts zu suchen.
Heimkehr zum Wasser
Im Jahr 2014 taucht der Wassertropfen in der Trinkflasche eines neunjährigen Mädchens namens Narin wieder auf. Narin lebt mit ihrer Grossmutter in einem jesidischen Dorf am Tigris-Ufer, das wegen eines Dammbauprojekts der Regierung geflutet werden soll: «Eine zwölftausend Jahre alte Geschichte wird von einem Staudamm ausgelöscht, der fünfzig Jahre Bestand hat – die Lebenszeit eines Maultiers.»
Schliesslich wird der Wassertropfen im Jahr 2018 zur Träne der Hydrologin Zaleekhah, die nach dem Scheitern ihrer Ehe auf ein Hausboot gezogen ist und ihren Suizid in der Themse plant: «Es wird weniger ein Weggang sein als eine Heimkehr, eine Rückkehr zum Wasser.»
Dieser opulente Roman schlängelt sich wie ein Strom durch Zeit und Raum. Shafak erzählt vom Gilgamesch-Epos, von Schutzdämonen, den «Hütern der Türen, die sich in andere Gefilde öffnen», von Nisaba, der Göttin der Schreibkunst, und ihrem langsamen Sterben, von der grausamen Verfolgung der Jesiden, die als «Teufelsanbeter» gebrandmarkt werden, schliesslich von der Wissenschaft, die in der Klimakrise eine Wasserkrise entdeckt.
Shafak geht der Frage nach, wer kulturelles Erbe besitzen darf, und sie befasst sich mit der Emigration und der daraus folgenden Wurzellosigkeit. Alle Figuren des Romans sind heimatlos wie das Wasser: «Wasser ist durch und durch Immigrant, es ist gefangen im Übergang und kann sich nirgends für immer niederlassen.»
Gegen das Vergessen
Wie in einem orientalischen Teppich webt Shafak ihre Geschichten ineinander, deren Zusammenhang sich erst nach und nach erschliesst. So steht am Ende wieder einmal Elif Shafaks zentrale Botschaft: Die Menschheit ist ein grosses Ganzes, auch wenn sie immer wieder auseinanderdividiert werden soll.
Was bleibt, ist ein beeindruckender Roman, der nah an der Perfektion ist. Ein Roman, der Elif Shafaks Ruf als grosse Erzählerin einmal mehr unterstreicht – und der auch ein flammendes Plädoyer ist gegen das Vergessen. Nicht zufällig arbeitet Zaleekhah an einer Studie über das Wassergedächtnis, eine umstrittene These, die Shafak als Möglichkeit in den Raum stellt und der sie mit dem Regentropfen, der durch die Jahrhunderte reist, eine Form gibt. Denn, so heisst es an einer Stelle im Roman: «Das Wasser erinnert sich. Nur die Menschen vergessen.»
Elif Shafak: Am Himmel die Flüsse. Roman. Aus dem Englischen von Michaela Grabinger. Hanser-Verlag, München 2024. 592S., Fr. 37.90.
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