In ihrem neuen Roman bringt Elif Shafak Räume und Zeiten zusammen (2024)

Elif Shafak erzählt in ihrem neuen Roman opulente Geschichten, die sich durch Jahrhunderte und Kulturen schlängeln. Das Thema der Migration verbindet die Erzählstränge.

Irene Binal

3 min

Drucken

Ein bettelarmer und hochbegabter Junge aus dem viktorianischen London, ein jesidisches Mädchen aus dem Osten der Türkei und eine depressive Wissenschafterin im London der Gegenwart: Drei Menschen sind über die Zeiten und Räume hinweg durch einen Regentropfen verbunden. Im antiken Ninive fiel er einem König namens Assurbanipal ins Haar und beobachtete, wie der Herrscher seinen Berater grausam bestrafte. «Noch Jahrhunderte später wird eine Spur dieses Augenblicks in der elementaren Form des Tropfens enthalten sein.»

Ausgehend von diesem Wassertropfen, erzählt Elif Shafak in ihrem Roman «Am Himmel die Flüsse» eine Geschichte, die mehrere Kulturen und Jahrhunderte umspannt. Im London des Jahres 1840 fällt der Tropfen als Schneeflocke auf das Gesicht eines Neugeborenen, das den Namen Arthur erhält und als «König der Abwasserkanäle und Elendsquartiere» in bitterster Armut aufwächst.

Aber Arthur ist begabt und wissbegierig, bringt es zu einer Anstellung im British Museum und ist fasziniert von alten Tontafeln aus der Bibliothek von König Assurbanipal. Darauf sind Fragmente des Gilgamesch-Epos aufgezeichnet, und Arthur ist besessen von der Idee, in den Ruinen von Ninive nach den verlorenen Teilen des Gedichts zu suchen.

Heimkehr zum Wasser

Im Jahr 2014 taucht der Wassertropfen in der Trinkflasche eines neunjährigen Mädchens namens Narin wieder auf. Narin lebt mit ihrer Grossmutter in einem jesidischen Dorf am Tigris-Ufer, das wegen eines Dammbauprojekts der Regierung geflutet werden soll: «Eine zwölftausend Jahre alte Geschichte wird von einem Staudamm ausgelöscht, der fünfzig Jahre Bestand hat – die Lebenszeit eines Maultiers.»

Schliesslich wird der Wassertropfen im Jahr 2018 zur Träne der Hydrologin Zaleekhah, die nach dem Scheitern ihrer Ehe auf ein Hausboot gezogen ist und ihren Suizid in der Themse plant: «Es wird weniger ein Weggang sein als eine Heimkehr, eine Rückkehr zum Wasser.»

Dieser opulente Roman schlängelt sich wie ein Strom durch Zeit und Raum. Shafak erzählt vom Gilgamesch-Epos, von Schutzdämonen, den «Hütern der Türen, die sich in andere Gefilde öffnen», von Nisaba, der Göttin der Schreibkunst, und ihrem langsamen Sterben, von der grausamen Verfolgung der Jesiden, die als «Teufelsanbeter» gebrandmarkt werden, schliesslich von der Wissenschaft, die in der Klimakrise eine Wasserkrise entdeckt.

Shafak geht der Frage nach, wer kulturelles Erbe besitzen darf, und sie befasst sich mit der Emigration und der daraus folgenden Wurzellosigkeit. Alle Figuren des Romans sind heimatlos wie das Wasser: «Wasser ist durch und durch Immigrant, es ist gefangen im Übergang und kann sich nirgends für immer niederlassen.»

Gegen das Vergessen

Wie in einem orientalischen Teppich webt Shafak ihre Geschichten ineinander, deren Zusammenhang sich erst nach und nach erschliesst. So steht am Ende wieder einmal Elif Shafaks zentrale Botschaft: Die Menschheit ist ein grosses Ganzes, auch wenn sie immer wieder auseinanderdividiert werden soll.

Was bleibt, ist ein beeindruckender Roman, der nah an der Perfektion ist. Ein Roman, der Elif Shafaks Ruf als grosse Erzählerin einmal mehr unterstreicht – und der auch ein flammendes Plädoyer ist gegen das Vergessen. Nicht zufällig arbeitet Zaleekhah an einer Studie über das Wassergedächtnis, eine umstrittene These, die Shafak als Möglichkeit in den Raum stellt und der sie mit dem Regentropfen, der durch die Jahrhunderte reist, eine Form gibt. Denn, so heisst es an einer Stelle im Roman: «Das Wasser erinnert sich. Nur die Menschen vergessen.»

Elif Shafak: Am Himmel die Flüsse. Roman. Aus dem Englischen von Michaela Grabinger. Hanser-Verlag, München 2024. 592S., Fr. 37.90.

Passend zum Artikel

Interview Die türkische Schriftstellerin Elif Shafak: «Wir sind zu einer zornigen Gesellschaft geworden» Während Elif Shafak mit ihrem jüngsten Buch auf Lesereise ist, geht in der Türkei ein sh*tstorm über sie nieder. Es ist nicht der erste – und die längst im Ausland lebende Schriftstellerin weiss, dass es um die Freiheit des Wortes in ihrer Heimat schlecht bestellt ist. Angespannt blickt sie nun der Wiederholung der Bürgermeisterwahl in Istanbul entgegen.

Irene Binal

Seit 104 Jahren läuft in Salzburg Hofmannsthals «Jedermann». Auf der Bühne möchte das Publikum dort stets Männer sehen, die wie Kanthölzer sind Fast alle Versuche, etwas Modernes aus dem «Jedermann» zu schlagen, sind gnadenlos gescheitert. Gedanken zu einem zeitenresistenten Theaterstück.

Paul Jandl

6 min

Giorgia Meloni, das wandelnde Emoji – für jedes Gefühl hat sie ein Gesicht Die italienische Ministerpräsidentin fällt auf mit ihrer mimischen Ausdruckskraft. Sie gibt sich grimassierend volksnah.

Birgit Schmid

3 min

In ihrem neuen Roman bringt Elif Shafak Räume und Zeiten zusammen (2024)
Top Articles
Latest Posts
Article information

Author: Margart Wisoky

Last Updated:

Views: 5621

Rating: 4.8 / 5 (78 voted)

Reviews: 85% of readers found this page helpful

Author information

Name: Margart Wisoky

Birthday: 1993-05-13

Address: 2113 Abernathy Knoll, New Tamerafurt, CT 66893-2169

Phone: +25815234346805

Job: Central Developer

Hobby: Machining, Pottery, Rafting, Cosplaying, Jogging, Taekwondo, Scouting

Introduction: My name is Margart Wisoky, I am a gorgeous, shiny, successful, beautiful, adventurous, excited, pleasant person who loves writing and wants to share my knowledge and understanding with you.